Der Mann mit dem Fagott

Drei Generationen Bockelmann
Foto: © ARD degeto

Ein Stück Männergeschichte

Ja, ist denn schon wieder Weihnachten!? Ein bisschen wie der Weihnachtsmann sieht er ja aus, Heinrich Bockelmann, oder wie einem (Ahnen-)Märchen entsprungen. Wie er da so über den Bremer Weihnachtsmarkt geht, anno 1891. Die Kulisse – es ist eine Kulisse! – märchenhaft. Der Großvater von Udo Jürgens, vom selbigen der Vergessenheit entrissen, ein Stück „Geschichte“ – Männergeschichte. Die „außergewöhnliche Familie“ Bockelmann möchte der Film uns zeigen und verkauft sie schlecht. Die Vorväter: sie geben relativ blasse Gestalten ab. Das liegt eindeutig am Buch, nicht am Talent der Schauspieler. Udo Jürgens spricht von „Leidenschaft“, die die Männer der Bockelmanns jeweils für ihr Ziel aufbrachten. Der Film bringt davon nicht viel rüber: Heinrich und später Sohn Rudi stehen dort, wo ein privilegiertes Schicksal sie hingeführt hat, und tun ihre Pflicht – Heinrich schon mit etwas Schmackes, Rudi zögerlicher „Ich bin nun mal Bürgermeister“ (aus Zufall? Doch wohl nicht.) Nun kann man sagen, so war eben der Zeitgeist damals. Lohnt es sich allein darüber einen Film zu machen? Eindeutig Nein. Wenn es darum gehen soll,   außergewöhnliche Männer zu zeigen, dürfen diese nicht so blutleer distanziert gezeichnet werden. Der dritte in der Familienreihe, Udo Jürgens in seinen Zwanzigern dargestellt, ist im Gegensatz zu den Vorrollen ein Mann dessen Charakter sichtbar wird. Sein erstes Ziel: mit seiner eigenen Musik Erfolg haben. Überhaupt, die Sequenzen der 1950er Jahre sind diejenigen, die Leben haben, die  Spielfilm sind und nicht wie eine Pseudo-Doku erscheinen. Hohes schauspielerisches Potential wurde hier mäßig genutzt. Die starken Männer seltsam seelenlos, das kann auch Otto Tausig in seiner Dreiminutenrolle nicht wett machen, auch wenn er sich alle Mühe gibt.

Plakative Schnappschüsse der Historie

Wie sieht es mit dem historischen Kontext aus? Der „Zeitreise durch 100 Jahre europäischer Geschichte“, die uns versprochen wurde? Mäßig. Was erfahren wir vom damaligen Weltgeschehen? Wir bekommen historische Brocken vorgeworfen, die die Zeitzustände beispielhaft an den großen Männern der Bockelmanns vorführen sollen. Plakative Schnappschüsse: aus dem Leben der Bourgeoisie während der Zarenzeit – Rußland vor dem Weltkrieg I wechseln mit Blenden auf das großbürgerliche Mitläufertum während der Nazizeit in Deutschland und Österreich und Szenen aus der Schwabinger Bohemien, sprich, der losgelassenen Jugend der wilden 1950er – ja, die gab’s! Den von Großvater und Vater überlieferten, noch nicht selbst erfahrenen, Geschichten fehlt es an Tiefgang, dem historischen Background an Hintergrund. Ja, ich seh das wohl zu streng: einigen Gästen der Premierenvorführung war es dann doch schon wieder zu viel an grausamer Historie.Das Führt mich zu der Frage: ist es nun ein Film für Fans oder für „Alle“? Anders gefragt: Was ist für jemanden, der kein ausgewiesener Udo Jürgens Fan ist, an diesem Stoff reizvoll? Wenig. Die Zeit der Buddenbroks ist Geschichte – wenn auch eine ganz anders aufgeschriebene. Wäre da nicht der „Promi“ Udo Jürgens, der interessiert – die Väter-Helden, wie sie im Drehbuch stehen, hinterlassen zu wenig Eindruck um mitreißen zu können. Ein Roman braucht identifizierbare Helden, doch mit den Jürgensschen Vorvätern mitzufühlen, fällt schwer. Der kleine Junge „Udo“ – großartig gespielt von Alexander Kalodikis –  und der aufstrebende (Jazz-)Musiker der deutschen Nachkriegszeit WKII (David Rott verkörpert hier eine Paraderolle) sind es, die uns der Film nahe bringt. Manchmal sehr nahe, hier und da drückt es die Tränendrüse. Aber dies sind die starken Episoden des Films. Jetzt erinnere ich mal willkürlich beispielhaft: wie der kleine Udo die Großen erschreckt, wenn er anfliegende Bomberformationen am Klavier intoniert, oder wie Udo-der-noch-nicht-so-ganz-Wissende-wohin „My Funny Valentine“ singt (übrigens mit der Original-Stimme  von heute); welche Art Musiker-Karriere hätte es auch werden können?- Eine große Karriere, wie auch immer, sicher, auf jeden Fall, daran läßt dieses Menschenkind von Anfang an keinen Zweifel aufkommen: Es will etwas Großes werden mit seiner Musik – der Rest ist Nebensache.

Hollywood im Deutschen Fernsehformat

Hollywoodkino im Deutschen Fernsehabendprogramm doppelt abendfüllend das geht ja nun schon mal gar nicht – abgesehen davon, dass diese Produktion von good old Hollywood a million miles entfernt ist – trotz Staraufgebot wie: Christian Berkel, Ulrich Noethen, David Rott, Herbert Knaup und in Minirollen Otto Tausig und Fritz Hammel. Und: Valerie Niehaus, einzige Frau, der hier eine ROLLE vergönnt ist. Die anderen drei (im Hauptcast kommen wir auf 24 Männern gegenüber 4 Frauen)  Franziska Stavjanik (Mutter),  Melika Foroutan (Großmutter) und Lisa Brühlmann: Nebenrollen. Udo Jürgens wird die Rolle der Frauen der Bockelmanns im realen Leben mit Sicherheit anders werten, aber sorry, der Film spricht so. Eine sehr deutlichen Ausnahme eben  Gitta, die Jugendliebe des Helden.Udo Jürgens und seinen Mitstreitern sei es bei der Verfilmung seines Buches darauf angekommen, „dem Geist des Buches, der Atmosphäre und den Charakteren der Figuren gerecht zu werden“. Er glaube, dass dies gelungen sei. Ich finde, im Film gleich wie im Buch ist sehr viel Atmosphäre und vergleichsweise wenig Charakter bei den Charakteren wahrzunehmen. Großes Kino ist es in gewisser Weise, was Produzenten und Regie da bieten. Regina Ziegler hat produktionstechnisch ins Übervolle gegriffen. Die „Familiensaga“ des heute – ja, man darf’s ruhig vorsichtig sagen – weltbekannten Entertainers, Sängers und Komponisten Udo Jürgens, von ihm selbst aufgeschrieben, zu einer romanesken Semidoku verwoben. Am Ende des Filmes steht ein hoffnungsvoller Udo Jürgens am Anfang einer Weltkarriere als Schlager- / Popkomponist und Eigenperformer. So steht’s geschrieben, und so war es im wirklichen Leben.

Drei Generationen geradeaus durchs Leben

Steigen wir also ein in eine Crash-Reise durch das Leben der Vorfahren auf der Linie des Jürgen Udo Bockelmann. Rahmenhandlung: Der Udo Jürgens des Jahres 2010 auf den Spuren des Mannes mit dem Fagott, u.a. auf Stippvisite in Moskau. Udo Jürgens spielt sich selbst, die Erzählungen seiner Familie erinnernd. Protagonist 1: Großvater Heinrich, Bankier des Zaren, Fels, auf den man bauen kann, eines Tages verhaftet und nach Sibirien verbracht wegen angeblichen Landesverrats, kann sich freikaufen. Christian Berkel sieht hier mal anders aus, als man ihn sonst aus dem Fernsehen kennt, hat eine tragende Rolle, die jedoch charakterlich nicht so viel hergibt. Alle im Programmheft unterstellten hehren Lebensgrundsätze lässt die Regie blass aussehen. DIE Szene Heinrichs (im Buch wie im Film), in der er mit seinen beiden kleinen Söhne an der Hand „geradeaus“ quer durch einen flachen Springbrunnen läuft, weil er sich am Eingang eines Restaurants nicht in die Wartenden einreihen will, kann man als zielstrebig (Zitat Heinrich: „Hier könnt Ihr was fürs Leben lernen…“) oder als rüchsichtsloses Durchsetzen eigener Interessen interpretieren. Die Rezensentin sieht dort eher Letzteres. Protagonist 2: Vater Rudi, Schloßbesitzer und Bürgermeister des österreichischen Städtchens Ottmanach in Kärnten (Udo Jürgen’s Geburtsort), wohlhabender Großbürger während der Zeit des Nationalsozialismus. Als Mitläufer und Gutdenker weicht er Konfrontationen aus. Er sorgt sich um seinen feinfühligen und gesundheitlich schwächlichen Sohn Udo, bringt seine Familie 1944 in Sicherheit nach Schweden und wird nach seiner pflichtbewußten Rückkehr in seinen Heimatort als Volksverräter inhaftiert und zum Tode verurteilt – das Kriegsende rettet ihn. Ulrich Noethen hat hier eine dankbare Rolle, die eine Entwicklung zulässt. Die Rolle des Rudi, der scheinbar weniger Raum gegeben wird als der des Heinrich, erweist sich als diejenige, die stärker ist, die Eindruck hinterlässt / hinterlassen darf.  Protagonist 3: Udo Jürgens in seinen jungen Jahren zwischen 18 und 28. Udo, der Musiker und begeisterte Jazzfan zunächst auf der Suche nach Verwirklichung und sich selbst und dann auf dem Weg vom Schnulzensänger zum international anerkannten U-Musik-Komponisten. David Rott sieht aus und bewegt sich durch die Story wie der Wiederläufer seines realen Vorbildes. Ja, so stellt sich ein heutiger Zeitgenosse des etablierten Komponisten, Sängers, Entertainers, Musikers Udo Jürgens dessen wilde Jahre auf dem Weg ins Rampenlicht vor! Dankbare Vorlage, unschlagbare Umsetzung. Protagonist/in 4: Gitta (in eindrucksvoller Weise verkörpert von Valerie Niehaus), die große Jugendliebe Udo’s, die seinen Karriereweg fördert, ihn antreibt, seine Selbstzweifel zu überwinden und seinen Weg zu gehen, die immer da ist, ihn aber niemals einengt, und die ihn eines Tages verlässt, weil er einfach nicht treu sein kann. Nein, das stimmt nicht, sondern: weil „Du nie eine Frau so lieben wirst, wie Du Deine Musik liebst“. Darauf kann und will sie sich auf Dauer nicht einlassen.

Film – Traum –  Wirklichkeit

Eine Frau hat sich darauf eingelassen. Seine erste Ehefrau, Panja, die er 1959 kennen lernt und mit der er 1966, wo die Rückblenden im Film enden, bereits einen zweijährigen Sohn hat. Sie erscheint im Film lediglich als Foto in schwarzweiß, das den endgültigen Auslöser dafür gibt, dass Gitta sich von Udo trennt. Nur der Insider bekommt mit, wer da gemeint ist. Für den unbedarften Zuschauer ist es lediglich ein Symbol dafür, dass Udo mal wieder mit irgendeinem Mädchen fremd gegangen ist. Sehr schade und unverständlich. Immerhin war es Panja, die Udo’s Karriereaufstieg unter Manager Beierlein’s Regie mit allen Höhen und Rückschlägen gestützt und begleitet hat und viele Jahre für die Familie und mit Rücksicht auf diese Karriere an seiner Seite geblieben ist. Wenigsten zwei (geschriebene) Sätze im euphorischen Grand Prix Siegestaumel hätte das wert sein müssen.

Ein märchenhafter Film beginnt auf dem Bremer Weihnachtsmarkt Ende des 19. Jahrhunderts, folgend der tragenden Melodie eines Fagottspielers, die uns entführt in andere Zeiten und uns nicht mehr verlassen wird über drei Stunden lang. Diese Musik von Udo Jürgens und Nic Raine geschrieben und arrangiert ist im klassischen Filmstil durchkomponiert. Es gibt das Fagott-Thema, Gitta’s Thema, …, atmosphärische Untermalungen der Szenen – manches Mal ein wenig zu bombastisch – und natürlich, unsere Hauptfigur ist ein Sänger, Lieder, von der Figur Udo Jürgens  vorgetragen. Sie spiegeln, welche Art von Musik er in den Zeiten vor seinem Durchbruch mit dem Grand Prix gespielt und gesungen hat – in Jazzclubs in USA oder im deutschen Plattenstudio. Alle diese Musikstücke wurden für den Film neu von Jürgens eingesungen. Das ist nicht immer stimmig, denn ein 20jähriger klingt nun einmal anders als ein 75jähriger. Insgesamt eine gelungene Filmmusik. Nic Raine, Britischer (Film-)Komponist, Dirigent und Arrangeur arbeitete bereits für zahlreiche Filmprojekte u.a. regelmäßig seit Jahren mit den renommierten Filmkomponisten John Barry und Carl Davis. Regisseur Miguel Alexandre hat auch mit Harald Göckeritz gemeinsam das Drehbuch geschrieben,  sich einer chaotischen Buchvorlage angenommen und das Wagnis auf sich genommen, dieser in der Umsetzung zu folgen. Wie man hörte, sollen andere im Vorlauf das Handtuch geworfen haben… Wer zwischen den plakativen Bildzeilen zu lesen versteht, wird aus dieser Familiensaga mit der Spannweite eines Jahrhunderts etwas dazu lernen können – über die Wurzeln des Karriere-Menschen Udo Jürgens, seine Gastreise durch das Leben, darüber, was ihm wichtig ist, was er aus seiner Familienvergangenheit mit auf diese Reise genommen hat.

Laut Jürgens habe er die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben, um sie „vor dem Vergessen und Versinken in der Zeit zu bewahren“. Gelingt das dem Film? Pompöse Bilder reichen dafür nicht. Auf jeden Fall hat der Buchautor Udo Jürgens das hiermit für sich selbst geschafft. Was der Zuschauer aus dem Film vom Bockelmann-Clan in Erinnerung behalten wird? – Reiche Familie, durch Zufall, Geld und Glück dem Rachefeldzug gegen die Deutsche Elite in Rußland während des Weltkriegs I  und der Willkür der Nazischergen im Angesicht des verloren gehenden Krieges, Weltkrieg II, entronnen. Spross dieser Sippe: Udo Jürgens, ein Mann, der seinen Weg gemacht hat, von der großspießbürgerlichen Verwandschaft erstmal als peinlich abgeschrieben, die er dann aber: jetzt erst recht! blass dastehen lässt. Allein, die Aufhängergeschichte mit dem Fagottspieler spricht das Gefühl an. Und diese Bronzefigur landet schließlich bei unserem  wahren Helden dieser Familiensaga, dem, der „hier eigentlich gar nicht mitspielen wollte“: Der Mann am Klavier – neben dem es sowieso keine Helden geben kann. Fazit: schön anzusehen und gute Musik.